«In 10 Jahren könnte sich die Festivalszene stark verändert haben»

«Welchen Impact hat das Konzert, das ich gerade besuche auf das Klima?» Diese Frage bewegt nicht nur Besucher*innen von Events, sondern auch die Veranstalter*innen. Dabei spielen neue Klimaschutzstandards und ein wachsendes Verantwortungsbewusstsein eine große Rolle. myclimate begleitet Veranstalter*innen von Festivals, Messen oder Stadtfesten bei dieser Aufgabe. Mit dabei ist auch die Plattform Music C•A•R•E•S, die Musikevents nachhaltiger gestalten will. Als Partnerin von Music C•A•R•E•S stand myclimate bei der Entwicklung eines Emissionsrechners beratend zur Seite. Im Interview erzählt Gründer Mauricio Lizarazo Prada, wo die Potenziale in der Konzertbranche liegen.

Mauricio Lizarazo Prada, Gründer von Music C•A•R•E•S

 

Hallo Mauricio, bevor wir zu den großen Themen kommen: Erinnerst du dich noch an dein erstes Konzert? Was hat dich dabei beeindruckt?

Ja, eines der ersten großen Konzerte, das ich besucht habe, war Paul McCartney 1993. Die Beatles beeinflussen mein Leben, seit ich 13 Jahre alt bin, deshalb war es für mich eine große Sache, Pauls Konzert im Busch Stadium zu besuchen. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Videos und Bilder gequälter Tiere, die passend zu den Liedern auf den großen Leinwänden gezeigt wurden. Paul ist auch ein Aktivist für Tierrechte und zeigte damit eindrucksvoll, wie Lebewesen von Menschen ausgebeutet werden. Das angebotene Essen war größtenteils vegetarisch, was in einem Baseballstadion ungewöhnlich war. Diese Erfahrung beeinflusste meinen Eindruck davon, welche Wirkung Live-Musik für gerechte, ethische und soziale Zwecke haben kann.

 

Ihr habt die Plattform Music C•A•R•E•S gegründet, um Veranstaltungen nachhaltiger zu gestalten und verantwortungsbewusste Planung zu ermöglichen. Wie kam es dazu?

Nachdem ich viele Jahre lang professionell Tourneen managte und Live-Shows für verschiedene Musikbands produzierte, hatte ich die Vision, meinen Job nachhaltiger zu gestalten. Es ist ein langer Prozess, eine Plattform zu konzipieren, die den Stakeholder*innen im Live-Musik-Bereich, Veranstalter*innen und Produzent*innen Werkzeuge, Know-how und Informationen bietet, um Klimaschutzmaßnahmen und Nachhaltigkeit zugänglicher umzusetzen. Die Idee war also, eine Plattform zu entwickeln, die die Produktion und Planung von Konzerten von Anfang an nachhaltig unterstützen kann.

 

Was sind die größten Hebel zur CO2-Einsparung und wie unterstützt ihr dabei?

Hebel zur CO2-Einsparung bei Konzerten müssen bereits in der Planung berücksichtigt werden. In der Pilotversion von Music C•A•R•E•S haben wir mit einem Emissionsrechner in den vier Bereichen Transport/Mobilität, Veranstaltungsort, Catering und Merch begonnen. Mit einigen notwendigen Daten können User*innen die Emissionen ihrer Veranstaltung berechnen und das Einsparpotenzial in einem interaktiven Diagramm sehen, um so Emissionen gezielt zu reduzieren oder zu vermeiden. Dies passiert über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Zusätzlich bieten wir eine Übersicht diverser Initiativen, die bei der Umsetzung nachhaltiger Maßnahmen helfen können. Music C•A•R•E•S unterstützt so den bewussten Umgang mit Ressourcen bei der Planung von Live-Events.

 

Gibt es ein Beispiel für ein Festival oder Konzert, das besonders nachhaltig umgesetzt wurde? Was lief dort anders als sonst?

In diesen Krisenzeiten ist das nachhaltigste Konzert das, das nicht stattfindet. Dennoch gibt es Beispiele, die mit gutem Beispiel vorangehen. Die Band Massive Attack engagiert sich seit Jahren für den Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Ihr «Act 1.5»- Festival in Bristol 2023 setzte ein starkes Zeichen für klimafreundliche Konzerte. Auch die Reggae-Band Seeed arbeitete auf ihrer Tour 2022 mit The Changency zusammen, der Agentur für nachhaltigen Wandel, um ihre Tour nachhaltiger zu gestalten. Auch weltweit bekannte Künstler*innen wie Billie Eilish und Coldplay setzen Maßstäbe für nachhaltigere Großveranstaltungen. Und auch wenn hier in der Umsetzung noch viel Luft nach oben ist, kann das Thema so seinen Weg in den Mainstream finden.

 

Die Festivalbranche kämpft mit steigenden Kosten, Sicherheitsanforderungen uvm. Warum sollte sich die Branche da noch für den Klimaschutz interessieren?  

Bei einer Nachhaltigkeitsstrategie, die Umwelt, Soziales und Wirtschaft umfasst, ist der Umweltschutz ein wesentlicher Bestandteil. Auch die ökonomische Nachhaltigkeit aus der Gemeinwohlökonomie sollte integriert werden, um das Gleichgewicht der Ressourcen und des Gemeinwohls zu wahren. Durch eine bewusste Ressourcennutzung, die Zusammenarbeit mit regionalen Netzwerken und die Förderung nachhaltiger Initiativen, können Veranstaltungskosten gesenkt werden. All dies führt zu einer gerechteren Verteilung der Ressourcen und fördert sozioökonomische und ökologische Nachhaltigkeit sowie den Schutz der Umwelt und der Artenvielfalt. Es handelt sich um ein intrinsisches Netzwerk. Wir müssen uns auf die Vernetzung zwischen menschlichen, sozialen und natürlichen Ressourcen konzentrieren. Wenn wir so weitermachen und gleichzeitig versuchen, den Planeten zu retten, stehen wir vor sich ausschließenden Konzepten.  

 

Aber mal Hand aufs Herz: Wo stehen wir heute? Ist Nachhaltigkeit in der Szene ein Thema oder eher eine Randnotiz?

Vielleicht hat die Dynamik zur Lösung der Klimakrise etwas nachgelassen, aber die Dringlichkeit, auf natürliche Ressourcen zu achten und die Bevölkerung zu schützen, ist nach wie vor präsent.

Nachhaltige Maßnahmen auf Festivals und Konzerten werden oft als ökonomische Herausforderung gesehen und deshalb nicht umgesetzt. Fakt ist aber, dass viele dieser Maßnahmen neben klima- und sozialfreundlichen Ergebnissen, sich auch langfristig positiv auf den Geldbeutel auswirken. Einige Festivals haben deshalb bereits den Weg zu mehr Nachhaltigkeit eingeschlagen. Aber das Thema spielt noch eine zu geringe Rolle.  

Um die Klima- und Sozialkrise zu bewältigen, müssen wir die Musikindustrie weiterhin mit wissenschaftlich fundierten Informationen versorgen und Greenwashing vermeiden. Tools wie die Music C•A•R•E•S-Plattform bieten Akteur*innen der Branche die Möglichkeit nachhaltige Entscheidungen zu treffen und Emissionen zu reduzieren.

 

Was treibt dich persönlich an dranzubleiben?  

Meine Motivation besteht darin, das Leben auf unserem wunderschönen Planeten im Einklang mit allem, was koexistiert, genießen zu können. Es ist wunderbar, Teil dieses Planeten zu sein. Einen Beitrag leisten zu können ist meine Motivation, und der lösungsorientierte Gedankenaustausch ist für mich eine Möglichkeit dafür. Meine Empörung und Wut über ausbeuterische Politik bestimmter Regierungen und den Mangel an Empathie privilegierter Menschen an der Macht, versuche ich in eine Kraft umzuwandeln, die mich dazu antreibt, weiterhin Aktionen auf den Weg zu bringen, die durch Live-Musik und darüber hinaus zu sozialer Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit beitragen.

 

Wie sieht die Festival- und Konzertszene in zehn Jahren idealerweise aus?

Das ist eine spannende Frage! In 10 Jahren könnte sich die Festival- und Konzertszene stark verändert haben, sowohl was die Technologie als auch die Nachhaltigkeit betrifft. Einige mögliche Entwicklungen:

1. Nachhaltigkeit als Standard
Konzerte und Festivals könnten mit null CO2-Ausstoß ablaufen, durch erneuerbare Energien, Recycling, Upcycling und innovative Transportlösungen wie eine bessere öffentliche Verkehrsinfrastruktur oder E-Schnellzüge.

2. Künstlerische Verantwortung
Immer mehr Künstler*innen könnten sozioökonomische und ökologische Themen ansprechen und auf ihren Tourneen nachhaltige Strukturen und gerechte Gewinnverteilungen umsetzen. Konzerte könnten direkt mit Solidaritäts-Kampagnen oder Aktionen zum Klimaschutz verknüpft werden.

3. Hybrid-Formate
Mit Virtual Reality könnten Festivalbesucher*innen virtuell teilnehmen, was Umweltbelastungen durch Reisen minimiert und globalen Zugang ermöglicht. Diese Formate könnten als hybride Veranstaltungen neben den physischen Events bestehen.

4. Nachhaltigkeitsplattformen wie Music C•A•R•E•S
Plattformen, die Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung in der Musikindustrie fördern, könnten noch umfangreicher werden. Sie könnten sowohl Künstler*innen, Veranstalter*innen als auch Konzertbesucher*innen helfen, nachhaltige Entscheidungen zu treffen und in entsprechende Projekte zu investieren.  

5. Zero-Waste-Events
Konzerte und Festivals könnten nahezu abfallfrei sein, mit biologisch abbaubaren Materialien, Mehrwegbechern, digitalen Eintrittstickets, nachhaltigerem Essen mit kompostierbaren Verpackungen.  

In zehn Jahren könnten Festivals und Konzerte sowohl innovativ als auch nachhaltig und verantwortungsbewusst sein, mit einem klaren Fokus auf ethische Verantwortung und digitale Innovationen. Music C•A•R•E•S und ähnliche Plattformen spielen eine wichtige Rolle, diesen Wandel zu ermöglichen und voranzutreiben.

 

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